In der Deliktorientierten Therapie (DOT) setzen sich Täter:innen mit ihrem Delikt auseinander und entwickeln Strategien, die sie befähigen, in einer späteren ähnlichen Situation besser zu reagieren. Felix Fleischli, Co-Betriebsleiter der Arche Therapie Bülach leitet seit einem halben Jahr die Sitzungen und erklärt, wie die Gruppengespräche ablaufen und welches die Herausforderungen und Ziele sind.
Was steckt hinter der Abkürzung DOT?
«DOT bedeutet Deliktorientierte Therapie oder Deliktorientiertes Training – wobei Training der treffendere Ausdruck ist. Es ist ein Gruppensetting, welches flankierend zu den Einzelgesprächen mit den Case Manager:innen/Fallverantwortlichen oder auch mit externen Therapeut:innen stattfindet. In der Gruppe werden die Delikte offengelegt und mit einem systemischen Ansatz betrachtet. Wichtig dabei zu beachten, dass die Ausführungen bezüglich Tathergangs wahrheitsgetreu wiedergegeben werden. Auch ist darauf zu achten, dass die Klient:innen ihre Delikte nicht verherrlichen oder die Gelegenheit dazu nutzen, sich über die begangenen Straftaten zu profilieren. Das Setting ist so aufgebaut, dass die Klient:innen sowohl Problemsteller:innen wie auch als -löser:innen agieren können. Sie sind die Spezialist:innen. Die Moderation erfolgt im Sinne von Regulierung und geschieht mit dem fragenden Ansatz (Fallverstehen). In der Arche Therapie Bülach besteht das Angebot zwar schon seit vier Jahren, aber so wie ich es jetzt leite, erst etwa ein halbes Jahr.»
Wer nimmt an den Settings teil?
«Die Arche Therapie Bülach hat die DOT-Sitzungen auf Personen aus dem Strafvollzug begrenzt. Das Training ist Teil der Aufenthaltsvereinbarung.»
Welche Kompetenzen, Ausbildungen erfordert die Leitung einer DOT-Gruppe?
«Ich bringe langjährige Erfahrung in der Begleitung von straffälligen Jugendlichen und Erwachsenen mit. Im Dienst der Jugendanwaltschaft habe ich über längere Zeit diverse Gruppen mit den Themen Gewalt und Dissozialität geleitet. In den letzten fast 30 Jahren durfte ich viele Entwicklungen und Themenschwerpunkte im Bereich Kriminalität und Prävention miterleben und prägen. Als Co- Betriebsleiter agiere ich wenig im operativen Bereich, was die nötige Distanz zu den Klient:innen schafft.»
Gibt es besondere Herausforderungen?
«Neueintretende haben oft das Bedürfnis, sich über ihr Delikt zu profilieren. Sie möchten sich als wichtiger oder gefährlicher positionieren als andere. Das müssen wir sofort unterbinden. Klient:innen, die schon länger in der Gruppe sind, wünschen sich niemanden, vor dem sie sich fürchten müssen, sondern Ansprechpersonen, die sich mit prosozialen Themen auseinandersetzen.»
Wie oft findet eine DOT-Sitzung statt, wie lange dauert sie und wie ist der Ablauf?
«Die Sitzungen finden in der Regel wöchentlich statt und dauern zwischen 60 und 75 Minuten. Die Gruppengrösse ist auf maximal acht Teilnehmende beschränkt. Der Ablauf ist so, dass zuerst von jeder Person eine narrative biographische Rekonstruktion erstellt wird. Die Erarbeitung findet mit allen Beteiligten statt. In einem weiteren Prozess stellt eine Person ihr/sein Delikt als Anschauungs-Lernbeispiel vor. Das Delikt wird dann sozusagen «seziert» und mit Hilfe verschiedener Methoden in der Gruppe bearbeitet. Wie bereits erwähnt geht es darum, Verständnis für die eigene Handlung zu erlangen und die Bereitschaft dazu, sich einem Veränderungsprozess zu stellen. Ein wichtiger Ansatz spielt dabei das Thema Ehrlichkeit und Selbstachtung. Hier bietet sich das Model der «Hinterbühne» und «Vorderbühne» an.»
... was bedeutet das?
«Wir Menschen haben wahrscheinlich alle eine Art von Vorderbühne und Hinterbühne. In einem gesunden Masse und ausgewogen ist das auch okay und richtig, da dies uns Schutz und Privatsphäre ermöglicht. Die Hinterbühne wird dann zu einem Problem, wenn sie eine komplett andere, problematische oder gar gefährliche Lebenswelt enthält.
In diesem Zusammenhang kommt mir immer das Beispiel vom unscheinbaren, stets fröhlichen und höflichen Pizzaiolo in den Sinn, der aber abseits des Pizzaofens einer kriminellen Organisation angehört. Oder Menschen, die fremdgehen; sie nutzen ebenfalls dieses Lebensmodell der Hinterbühne. Die Vorderbühne ist das, was wir anderen zeigen wollen, um das gewünsche Ziel zu erreichen. Das Thema Ehrlichkeit und Wahrheit fängt ausschliesslich bei jedem selbst an. Die Frage, sich für die Wahrheit zu entscheiden, spielt dabei die zentrale und entscheidene Rolle. In diesem Zusammenhang müssen auch schwierige und schmerzhafte Geständnisse erfolgen.»
Wie wichtig auf dem Weg in die Wiedereingliederung ist die Akzeptanz des Delikts?
«Die sogenannte Delikteinsicht ist ein wichtiger Schritt. Ebenso Verstehen – und so weit für diese Person möglich – Empathie oder Mitgefühl für allfällige Opfer sind weitere Elemente. Empathisch ist man oder nicht; wem diese Fähigkeit nicht in die Wiege gelegt wurde oder sie durch die Erziehung erhalten hat, muss die Erkenntnisse über den Verstand erlangen. Klare Strukturen und Regelungen haben einen präventiven, aber auch kontrollierenden Charakter.
Viele befinden sich in einer Opferhaltung und suchen Schuldige für ihre Lage, in die sie sich meist selbst manövriert haben; sie sind sehr selbstbezogen oder selbstmitleidig. Das möchten wir aufbrechen und andere Sichtweisen anbieten. Es gibt andere Lebenswelten als jene hinter Gefängnismauern beispielsweise.»
Wie ist das zu verstehen?
«Wir haben momentan zwei Personen bei uns, die sehr lange Zeit im Gefängnis verbracht haben. In dieser Welt bewegen sie sich mühelos. Hier sind wir draussen – hier zählen andere Werte. Eigene Stärken können genutzt werden, indem man zum Beispiel jemanden unterstützt, sich für jemanden oder etwas einsetzt. Hier pflegen wir eine offene Gesprächskultur. Unsere Aufgabe ist es, diese Menschen von der einen, sehr prägnanten Lebenswelt in die andere, für sie unbekannte Realität zu begleiten. Wir als Team müssen so auftreten, dass sie von unseren Kompetenzen profitieren können. Haben sie noch vor kurzem viel Zeit allein in ihrer Zelle verbracht, sind sie jetzt mit dem Arche-Team von fast 20 Personen und mit mehr als zehn Mit-Klient:innen konfrontiert, mit denen sie umgehen müssen. Sie sind ständig am Austarieren und Lernen.»
Mit welchen Widerständen hast du in der Therapie am meisten zu kämpfen?
«Eigentlich mit keinen. Die Schwierigkeit ist allenfalls herauszufinden, wer sich an welchem Punkt seines Prozesses befindet. Etwa, wie das Befinden innerhalb der Gruppe ist. Weil alle ähnliche Hintergründe haben, entwickelt sich eine Dynamik, die stärkend wirken kann. Natürlich muss ich auch als Moderator auf die Befindlichkeiten der Klient:innen reagieren. Ist jemand bereits angespannt, muss ich nicht noch sprichwörtlich «zeuseln», sondern deeskalierend einwirken oder die Gruppe als Ressource nutzen. Die Formen von Dissozialität haben sich in den letzten 30 Jahren stetig verändert, sie sind und waren thematisch mit der dazugehörigen Weltordnung verbunden. Die Therapieansätze sollen einerseits situationsgebunden, also der Gegenwart zugewandt, aber auch rückblickend sein.»
Was wird von euch als Team erwartet?
«Man erwartet von uns, dass wir uns den Problemen der Klient:innen bewusst sind und dass wir unterstützend wirken. Falsche Erwartungshaltungen müssen möglichst bald geklärt werden, wir können keine Probleme lösen, wir können lediglich begleiten und Wege aufzeigen.»
Wie wird sichergestellt, dass das, was in der Therapie erarbeitet wird, auch draussen im Alltag nach der Entlassung Bestand hat?
«In der DOT vermitteln wir den Klient:innen die Fähigkeit, Strategien zu entwickeln, damit sie in einer künftigen ähnlichen Situation besser reagieren. Wir zeigen, wie Frustrationstoleranz und Impulskontrolle trainiert werden können. Zudem zeigen wir ihnen auf, wie sie gegen aussen wirken – durch ihre Ausdrucksweise, Kleidung oder Körpersprache. Prosoziales Leben muss sich auch lohnen.»
Deine persönliche Einschätzung: Ist DOT für die Wiedereingliederung in die Gesellschaft entscheidend?
«Ja, unbedingt. Durch diese Therapieform können wir die Realitäten der betroffenen Klient:innen besser verstehen und dadurch einen gewissen Einfluss darauf nehmen. Wir zeigen ihnen auf, dass sie ihr Verhalten hinsichtlich ihres Auftretens, ihrer Kommunikation, ihrer Wahrheitstreue und ihrer Zuverlässigkeit ändern müssen und geben ihnen entsprechende Denkansätze und Verhaltensweisen mit auf den Weg. Diese Fähigkeiten sind für ein selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft unabdingbar.»
Das Flipchart ist ein wichtiger Bestandteil des Trainings, um Zusammenhänge aufzuzeigen und fassbar zu machen.